Der Konfliktfall

Das Kind bleibt in der Pflegefamilie. Das Jugendamt stellt die Zahlungen ein. Was tun?

Die sorgeberechtigten Herkunftseltern, (andernfalls: der Einzelvormund oder der Amtsvormund) wollen das Pflegeverhältnis beenden und das Pflegekind zurückführen oder anderweitig platzieren. Die Pflegeeltern halten dies für mit dem Kindeswohl unvereinbar. Auf ihre Anregung ergeht eine Verbleibensanordnung durch das Familiengericht. Das Kind verbleibt aus Gründen des Kindeswohls in der Pflegefamilie. Das Jugendamt stellt die Zahlungen ein.

Sehr ähnlich: Mit Zustimmung der sorgeberechtigten Herkunftseltern werden der Pflegefamilie die Angelegenheiten der elterlichen Sorge einschließlich des Aufenthaltsbestimmungsrechts übertragen, womit das Jugendamt nicht einverstanden ist. Es stellt daraufhin die Zahlungen ein.

Ein solcher Fall lag dem Urteil des Thüringer Oberverwaltungsgericht vom 03.03.2016 – 3 KO 468/14 – zu Grunde: Das Jugendamt hatte das 2007 geborene Kind noch im Jahr seiner Geburt wegen psychischer Erkrankung der Herkunftsmutter in die Pflegefamilie vermittelt. Dem Ansinnen des Jugendamts, das Kind im Jahr 2008 aus der Pflegefamilie wieder herauszunehmen und das Kind zusammen mit der Mutter in einer Mutter-Kind-Einrichtung unterzubringen, verweigerte sich die Kindesmutter, da sie sich mit dieser Aufgabe überfordert sah. Gegenüber der Absicht des Jugendamts, das Kind aus der Pflegefamilie herauszunehmen, wehrten sich die Pflegeeltern mit dem Antrag auf Erlass einer Verbleibensanordnung. Nachdem das Jugendamt in der Verhandlung vor dem Familiengericht seine Absicht, das Kind aus der Pflegefamilie herauszunehmen, widerrufen hatte, beantragten die Pflegeeltern mit Zustimmung der sorgeberechtigten Herkunftsmutter die Übertragung der Angelegenheiten der elterlichen Sorge gem. § 1630 Abs. 3 BGB. Das Familiengericht gab aus Gründen des Kindeswohls diesem Antrag statt. Das Kind blieb seitdem in der Pflegefamilie.

Das Jugendamt stellte darauf – im Jahr 2008 – jegliche Hilfeleistungen ein. Den Antrag der Pflegeeltern auf Gewährung der Leistungen im Rahmen von Hilfe zur Erziehung wies das Jugendamt zurück. Die dagegen gerichtete Klage an das Verwaltungsgericht Weimar blieb erfolglos. Die dagegen gerichtete Berufung (nach erfolgreichem Antrag auf Zulassung der Berufung) war erfolgreich. Sie endete mit dem genannten Urteil des Thüringer Oberverwaltungsgerichts, das allerdings ein Anerkenntnisurteil ist und insoweit nicht mit inhaltlichen Gründen versehen ist.

Es stellt sich hier eine durchaus besondere rechtliche Problematik:

Wie kommt das Kind in dieser Situation zu seinem Unterhalt und die Pflegeeltern zu dem Erziehungsbeitrag und sonstigen Leistungen im Rahmen der Hilfe zur Erziehung?

Die Betrachtung der Rechtsprechung zeigt folgendes:

  1. Das Oberverwaltungsgericht Lüneburg hatte bereits vor bald 20 Jahren (FamRZ 1998, 707 m. Anm. Hoffmann) eine solche Antragsrücknahme als rechtsmissbräuchlich bezeichnet, da hier absichtlich das Kindeswohl durch Entzug der Unterhaltszahlungen geschädigt würde und das Jugendamt zur Zahlung verurteilt. Die dortigen Rechtsausführungen sind allerdings nicht sehr ergiebig.

  2. Das Bundesverwaltungsgericht hatte in einem anderen Fall geklärt, dass eine familiengerichtliche Anordnung nach § 1632 Abs. 4 BGB nicht zugleich zu einer begleitenden Jugendhilfeleistung verpflichte (Urteil vom 21. Juli 2001 - BVerwG 5 C 6.00 - Buchholz 436.511 § 39 KJHG/SGB VIII Nr. 2 = NJW 2002, 232), so dass eine solche gerichtliche Anordnung nicht geeignet sei, für den Träger der öffentlichen Jugendhilfe eine Pflicht zu begründen, deren Erfüllung im Sinne des § 683 Satz 2 , § 679 BGB "im öffentlichen Interesse" liege. Dies dürfte dann auch für eine Entscheidung gem. § 1630 Abs. 3 BGB gelten.

  3. Diese Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts entspricht der aktuellen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Verhältnis von Familiengericht und Jugendamt beim Auseinanderfallen von Einschätzungen des Jugendamts einerseits und des Familiengerichts andererseits.

    Zwar hat einerseits das Jugendamt die Steuerungshoheit bei Jugendhilfemaßnahmen gemäß § 36 a SGB VIII. Das Familiengericht ist nicht berechtigt, Anweisungen an das Jugendamt bezüglich bestimmter Hilfemaßnahmen zu erteilen.

    Das Bundesverfassungsgericht weist andererseits in seiner Kammerentscheidung vom 24.03.2014 – 1 BvR 160/14 –, juris, dem Familiengericht eine besondere Prüfungskompetenz gegenüber dem Jugendamt in der Einschätzung des Kindeswohls und der sich daraus ergebenden Konsequenzen zu.

    Das Familiengericht habe in eigener Verantwortung zu prüfen, ob und welche Maßnahmen zur Abwehr einer Kindeswohlgefährdung geeignet sind und ist nicht an die Einschätzung des Jugendamts gebunden.

    Zum anderen dürften öffentliche Hilfen im Rahmen des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit nicht bereits deswegen außer Betracht bleiben, weil sie vom Jugendamt nicht gewährt werden.

    Zwar ist damit das Verhältnis von Familiengericht und Jugendamt bei deren unterschiedlichen Einschätzungen durch das Bundesverfassungsgericht nicht endgültig geklärt; es verweist die Beteiligten insoweit auf den – allerdings sehr langwierigen – Verwaltungsrechtsweg.

    Diese Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts weist unübersehbar darauf hin, dass bei Entscheidung des Familiengerichts zur Verbleibensanordnung oder zur Übertragung der Angelegenheiten der elterlichen Sorge gemäß § 1630 Abs. 3 BGB auf die Pflegeeltern mit der dabei zwingend verbundenen Kindeswohlprüfung durch das Familiengericht eine eindeutig vorrangige Bedeutung zukommt gegenüber der Einschätzung des Jugendamts, es sei eine Hilfe nicht erforderlich.

    Jedoch kann für den Verwaltungsrechtsweg die vorrangige Gewichtung der Einschätzung des Familiengerichts, wie sie das Bundesverfassungsgericht jetzt vorgenommen hat, nicht außer Acht bleiben.

  4. In der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist auch geklärt, (vgl. Urteile vom 9. Juni 1975 - BVerwG 6 C 163.73 - BVerwGE 48, 279 und vom 28. August 2003 - BVerwG 4 C 9.02 - NVwZ-RR 2004, 84 ), dass die Grundsätze über die Geschäftsführung ohne Auftrag auch im öffentlichen Recht anzuwenden sind, ein Aufwendungsersatzanspruch auf § 683 BGB gestützt werden kann und der Anspruch aus Geschäftsführung ohne Auftrag u.a. davon abhängt, dass der Geschäftsführer ein zumindest auch fremdes Geschäft wahrgenommen hat.

In einer jüngeren Entscheidung hat das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG 3.11.2006 5 B 40/06, juris) die Frage, welche Bedeutung einer - vorläufigen oder nachträglich aufgehobenen - familiengerichtlichen Anordnung für die Gewährung von Leistungen der Jugendhilfe beizumessen ist bzw. ob durch eine infolge einer solchen familiengerichtlichen Anordnung erbrachten Betreuungstätigkeit eine Pflicht erfüllt wird, deren Erfüllung im Sinne des § 679 BGB "im öffentlichen Interesse" liegt.

Das BVerwG hat die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Oberverwaltungsgerichts Bautzen vom 26.10.2005 - 5 B 926/04 - zurückgewiesen.

 

Die damit rechtskräftig gewordene Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts lautete im Kern:

Auch im Falle einer nachträglich wegen Rechtswidrigkeit aufgehobenen Verbleibensanordnung gem. § 1632 Abs. 4 BGB besteht ein Aufwendungsersatzanspruch in entsprechender Anwendung des § 683 BGB aus einer öffentlich-rechtlichen Geschäftsführung ohne Auftrag im Zusammenhang mit der amts/familiengerichtlichen Anordnung.

Die dort maßgebliche Fragestellung lautete:
Besteht im Falle einer Verbleibensanordnung gem. § 1632 Abs. 4 BGB ein Anspruch auf Zahlung von Pflegegeld für die aufgrund der Verbleibensanordnung in der Pflegefamilie / Kleinstheim verbliebenen Kinder?

Die Frage wird bejaht, wobei es sich um eine »Einrichtung« (Kleinstheim) gemäß § 34 SGB VIII handelt, also nicht um eine Pflegefamilie im engeren Sinne und auch ungeachtet der Besonderheit, dass die Verbleibensanordnungen wegen Rechtswidrigkeit nachträglich vom Oberlandesgericht aufgehoben wurde.

Wenn dies aber für eine Einrichtung (Kleinstheim) gilt, dann gilt dies für eine Pflegefamilie erst recht.

Wenn sogar im Falle einer rechtswidrigen, nachträglich vom Oberlandesgericht aufgehobenen Verbleibensanordnung die Zahlung geleistet werden muss, so gilt dies für den Fall einer Verbleibensanordnung, die nicht rechtswidrig ist und nicht aufgehoben wird, erst recht.

Es lag folgender Sachverhalt zu Grunde:
Der Kläger - ein eingetragener Verein - ist ein Freier Träger der Jugendhilfe und betreibt mit Betriebserlaubnis des Landesjugendamtes ein Kinderhaus mit sechs Plätzen (Kleinstheim mit innenwohnenden Erziehern). Mit seiner Klage gegen das Jugendamt wendet er sich gegen die Versagung einer Kostenerstattung für die bei ihm erfolgte Unterbringung von vier Kindern einer Mutter.

Die Kindesmutter erhielt vom Jugendamt Hilfe zur Erziehung nach §§ 27, 34 KJHG/SGB VIII in der Weise, dass ihre vier Kinder in der Einrichtung des Klägers untergebracht wurden.

Das Jugendamt (der Beklagte) kam nach einer Überprüfung zu dem Ergebnis, dass eine Rückführung der Kinder zur Mutter dem Kindeswohl entspräche und teilte dies dem Kläger schriftlich mit. Der Kläger erhob dagegen Bedenken.

Der Beklagte hielt an der Absicht fest, die Rückführung zu veranlassen und stellte alle Zahlungen an den Kläger ein. Der Kläger regte daraufhin beim Amtsgericht - Familiengericht - unter Bezugnahme auf § 1632 Abs. 4 BGB den Erlass einer Anordnung zum vorläufigen Verbleib der Kinder in seiner Einrichtung an, die daraufhin erlassen wurde.

Mit Beschluss des Brandenburgischen Oberlandesgerichts - Familiensenats - vom 12.02.1999 - 10 WF 144/98 wurde die vorläufige Verbleibensanordnung des Amtsgerichts mit der Begründung aufgehoben, dass ein Anwendungsfall nach § 1632 Abs. 4 BGB nicht gegeben sei; ein Kleinstheim sei keine Pflegefamilie.

Nach vergeblichem Widerspruchsverfahren gegen die Einstellung der Hilfen erhob der Kläger Klage zum Verwaltungsgericht, welches die Zahlungsklage abwies.

Auf Antrag des Klägers hat das Oberverwaltungsgericht die Berufung wegen ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung zugelassen.

 

Auf die Berufung hin hat das Oberverwaltungsgericht den Beklagten verpflichtet, an den Kläger 33.034,40 Euro nebst 4% Zinsen zu zahlen.

Der Zahlungsanspruch des Klägers ergäbe sich als Aufwendungsersatzanspruch in entsprechender Anwendung des § 683 BGB aus einer öffentlich-rechtlichen Geschäftsführung ohne Auftrag im Zusammenhang mit der amts/familiengerichtlichen Anordnung.

 

Hier liege nun die Besonderheit vor, dass es sich bei dem Kläger nicht um eine Pflegefamilie im Sinne des § 1632 Abs. 4 BGB gehandelt habe.

Aufgrund der Anordnung des vorläufigen Verbleibs der Kinder in der Einrichtung des Klägers sei der Kläger aber verpflichtet gewesen, die Pflegeleistungen, so wie sie zuvor unter Geltung von Vereinbarungen mit dem Beklagten erbracht wurden, fortzuführen, auch ohne dass ein entsprechender Wille der Kindesmutter vorgelegen habe.

Während eine rechtmäßige Anordnung nach § 1632 Abs. 4 BGB nur in das Verhältnis der Pflegeperson zum Sorgeberechtigten eingreifen und das Jugendamt außen vorlasse, berühre die - rechtswidrige - Anordnung des Familiengerichts auch den Beklagten.

Der Kläger konnte aufgrund des Beschlusses auch nur in der Weise tätig werden, indem er aufgrund der zuvor geltenden Vereinbarungen nach § 78 b SGB VIII mit dem Beklagten tätig geworden sei. Denn für eine andere Tätigkeit besaß er schon keine Zulassung. Der Kläger musste auch weiter von einer Kostenerstattung durch den Beklagten ausgehen, da der Beschluss des Amtsgerichts ausdrücklich von einem Verbleiben der Kinder und Jugendlichen in der Einrichtung ausging und damit die Beibehaltung des bisherigen Zustandes anordnete.

Hierin sei eine Geschäftsführung ohne Auftrag des Beklagten zu sehen, deren Berechtigung (und Verpflichtung) der - wenn auch rechtswidrige - Beschluss des Amtsgerichts darstellt.

Der Betroffene sei an die vorläufige Anordnung des Familiengerichts bis zu ihrer Aufhebung gebunden. Denn dem Rechtsmittel der Beschwerde komme grundsätzlich keine aufschiebende Wirkung zu (§ 570 Abs. 1 ZPO).

Angesichts dessen, dass der Kläger die Leistungen nach § 34 SGB VIII im Rahmen seines Gewerbes erbracht habe, stehe ihm auch im Falle einer Geschäftsführung ohne Auftrag die übliche Vergütung zu (vgl. BGHZ 65, 384, 390).

Die Hilfe war für das Kind in Form der Unterbringung in der Pflegefamilie von Anfang an als sowohl notwendig (BVerwG, Urteil vom 09.12.2014 – 5 C 32.13 Rn. 22) als auch geeignet (im Fall der Entscheidung des Thüringer Oberverwaltungsgerichts laut Einschätzung des Jugendamts zu den hervorragenden Qualitäten der Pflegefamilie in der jahrelangen Betreuung des Kindes).

Die weitere Konsequenz der nicht rechtzeitigen Leistung des Jugendamts und einer daraus resultierenden – zulässigen – Selbstbeschaffung nach § 36 a Abs. 3 SGB VIII besteht darin, dass der Anspruchsteller anstelle des Jugendamtes den sonst diesem zustehenden und nur begrenzt gerichtlich überprüfbaren Einschätzungsspielraum für sich beanspruchen kann (BVerwG a. a. O., Rn. 33):

»Denn in dieser Situation ist er – obgleich ihm der Sachverstand des Jugendamtes fehlt – dazu gezwungen, im Rahmen der Selbstbeschaffung eine eigene Entscheidung über die Geeignetheit und Erforderlichkeit einer Maßnahme zu treffen mit der Folge, dass sich die Verwaltungsgerichte hinsichtlich der Geeignetheit und Erforderlichkeit der selbstbeschafften Hilfe auf eine fachliche Vertretbarkeitskontrolle aus der ex-ante-Betrachtung des Leistungsberechtigten zu beschränken haben. Ist die Entscheidung des Leistungsberechtigten in diesem Sinne fachlich vertretbar, kann ihr im Nachhinein nicht etwa mit Erfolg entgegnet werden, das Jugendamt halte eine andere Hilfe für geeignet und notwendig.«

 

Daraus folgt die vom Bundesverwaltungsgericht (a. a. O., Rn. 36) benannte Rechtsfolge, wonach der Anspruchsteller

»so zu stellen ist, wie er stehen würde, wenn die selbstbeschaffte Jugendhilfeleistung, auf die ein Anspruch bestand, rechtzeitig bewilligt worden wäre. Denn in den Fällen der vorliegenden Art entspricht der Umfang der nach § 36 Abs. 3 S. 1 SGB VIII von der Beklagten zu übernehmenden erforderlichen Aufwendungen dem Betrag, der bei rechtzeitiger Gewährung der Leistung vom Jugendhilfeträger nach den zugrunde liegenden öffentlich-rechtlichen Bestimmungen zu tragen gewesen wäre

Dies bedeutet, dass den Klägern die finanziellen Ansprüche unabhängig von früheren Anträgen, rechtskräftig gewordenen Ablehnungsbescheiden etc. zustehen.

Die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts ist keineswegs nur auf Großeltern, die in jenem Fall geklagt hatten, anwendbar, sondern auch und insbesondere – da nicht dem Kind gegenüber unterhaltsverpflichtet – auf nicht mit dem Kind verwandte Pflegeeltern, denen die Übertragung der elterlichen Sorge etwa gem. § 1630 Abs. 3 BGB mit Zustimmung der Herkunftseltern beim Familiengericht die Möglichkeit zur Antragstellung eröffnet hat und das Familiengericht nach Prüfung des Kindeswohls antragsgemäß entschieden hat.